Ich befinde mich in Hannover, unweit des Hauptbahnhofs – glücklich, dass ich bei diesem Regen nicht weit laufen muss, klingle ich an einem zweistöckigen Gebäude inmitten einer Häuserzeile mit Wohnungen. Hier befindet sich die Hauptgeschäftsstelle des Verbandes Wohneigentum Niedersachsen. Eine nette Dame öffnet mir die Türe, bietet mir einen Kaffee an und kurze Zeit später kommt Tibor um die Ecke.
Tibor ist seit 17 Jahren CEO beim Verband Wohneigentum Niedersachsen, der sowohl als Lobbyist für private Wohneigentümer als auch als Verbraucherschützer in der Immobilienberatung tätig ist. „Wir decken im Rahmen der Beratung den kompletten Lebenszyklus der Immobilie ab, startend bei der Finanzierungsberatung.“ In diesem Interview widmen wir uns den Veränderungen, die Tibor in seiner Organisation sieht sowie den Herausforderungen, unterschiedlichste Zielgruppen mitzunehmen. Denn: Der Verband Wohneigentum ist als Verein strukturiert und besteht, neben der Hauptstelle, vorrangig aus 350 Ortsvereinen, die von Ehrenamtlichen geführt werden.
„Ich sehe uns im Hauptamt als eine Art Serviceeinheit für die Ehrenamtlichen. Wir schaffen die Rahmenbedingungen, sodass die Ehrenamtlichen gut arbeiten und sich auf das konzentrieren können, was ihnen Spaß macht. Sie üben ihre Tätigkeit aus, weil sie einen Sinn darin sehen. Wenn sie das nicht mehr tun, können sie morgen weg sein.“
Damit bringt Tibor die Herausforderung auf den Punkt: Wie führt man Mitarbeitende, die in keinem Angestelltenverhältnis zur Organisation stehen und einen ganz starken Sinn oder neudeutsch „Purpose“ in ihrer Arbeit sehen möchten? Wie binde ich diese Personen an die Organisation und wie schaffe ich es, sie mitzunehmen?
Im Kern geht es für Tibor darum, diesen Menschen die lästigen Tätigkeiten abzunehmen, damit sie sich auf die wirklich sinnstiftende Arbeit konzentrieren können. Dabei spielt die Digitalisierung eine entscheidende Rolle, sie wird als „Mittel zum Zweck“ wahrgenommen: „Wir versuchen, alles, soweit es geht, zu digitalisieren und zu automatisieren, um die Mitglieder zu entlasten.“ Damit Angebote allerdings schlussendlich genutzt werden, reiche es nicht, diese zu erstellen: Wie bei jeder Veränderung gilt es, Menschen mitzunehmen und zu überzeugen. Werfen wir einen Blick auf den Veränderungsprozess im Detail.
Am Anfang die „Ablehnung“
„Im Rahmen unserer Digitalisierungsstrategie wollen wir vor allem die Mitgliederverwaltung, die Buchführung und das kollaborative Arbeiten angehen.“ In Bezug auf die Mitgliederverwaltung zum Beispiel hatte früher jeder Ortsverein seine eigene Mitgliederverwaltung und seinen eigenen Datenbestand. Heute läuft das zentral. Das entlastet sowohl die Hauptgeschäftsstelle als auch die Ortsvereine, weil nicht mehr ständig Daten abgeglichen und alles doppelt festgehalten werden muss.
„Trotzdem war das eine Riesensache“, erzählt Tibor. „In den Köpfen der Ehrenamtlichen begann es mit dem Gedanken: Das ist aber meins, da hast du nichts zu suchen, ihr sollt keinen Zugriff auf unser gesamtes Mitgliederverzeichnis haben.“ Wie durchbricht man dieses Mindset?
Kommunikation als Schlüssel
Ein Schlüsselmechanismus im gesamten Prozess ist die konsequente Kommunikation. Zunächst wurden dazu in der Geschäftsstelle unter anderem Digitalbotschafter ausgebildet. Diese haben die Aufgabe, in den Ortsvereinen Ansprechpartner für neue Software zu sein, wie zum Beispiel die neue Mitgliederverwaltung. „Besonders wichtig dabei ist es, immer wieder die Vorteile der Software zu kommunizieren.“ Dies wird durch das Teilen von Erfolgsgeschichten unterstützt: Anwenderinnen von neuer Software agieren als Multiplikatoren und berichten in dieser Rolle sehr konkret, welchen Mehrwert die Software für sie hat und wie sie damit arbeiten: „Was ist beispielsweise die Zeitersparnis, die sie durch den Einsatz der neuen Software haben und welchen zeitlichen Zugewinn haben sie dadurch für kreativere Aufgaben?“
Transparenz durch gemeinsam erarbeitete Digitalstrategie
Ein weiteres wichtiges Element für Tibor ist die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, die nur bestehen kann, wenn es eine Digitalstrategie gibt und diese auch konsequent umgesetzt wird. Diese gemeinsame Digitalstrategie verdeutlicht, wie der Verband Wohneigentum zukunftsfähig bleiben möchte und in welchen Bereichen sie den Ehrenamtlern hilft: Austausch (von Wissen), Beratung, Qualitätsprodukte und Teilen (von Geräten und Co.). „Bei uns gibt es das nicht, dass wir mal hier, mal da, ein Projekt anstoßen. Wir schauen immer sehr konkret: Inwiefern orientiert sich das neue Projekt an unserer Strategie, was nützt uns das? Nur so können wir von Anfang an transparent im Verein kommunizieren, warum wir etwas umsetzen und was es uns bringt.“
Einbezug der Zielgruppe
Bei der Erarbeitung der Strategie wurden von Anfang an Ehrenamtliche einbezogen: „Wir wollten genau verstehen, was deren Bedürfnisse in der alltäglichen Arbeit sind, um Systeme zu bauen, die sich an ihren Anforderungen orientieren. Es ist wichtig, das immer wieder zu kommunizieren und den Menschen die Angst vor der Technik zu nehmen.“ Schon auf der ersten Seite der Digitalstrategie wird gezielt darauf hingewiesen, dass die Digitalisierung niemals den persönlichen Kontakt und das Miteinander ersetzen wird, sondern es vielmehr darum geht, Ehrenamtler zu entlasten. Nur durch eine konsequente Orientierung an den Bedürfnissen der ehrenamtlichen Mitarbeiter können die Einstiegshürden so gering wie möglich gehalten werden. „Ansonsten werden unsere digitalen Angebote nicht wahrgenommen“, erzählt Tibor.
Der Schlüssel liegt für Tibor also in einer kontinuierlichen Kommunikation, einer transparenten Darstellung von Zielen und Projektergebnissen und der Einbindung der „User“, in diesem Fall der Ehrenamtlichen. „Es reicht nicht, eine Entscheidung zu treffen, und diese dann einfach umzusetzen. Man muss die Hintergründe transparent erklären und die Menschen mitnehmen. Sie müssen verstehen, was ihr konkreter Nutzen ist.“
Lieber Tibor, ich danke dir für diesen spannenden Einblick in deine Organisation und freue mich, dass ihr ab jetzt den Weg gemeinsam mit der LeadershipGarage geht!
Hannah Vergossen
Digitaler Fingerabdruck:
„Try out and fail fast“ – Unternehmen brauchen agile Prozesse und eine ausgeprägte Fehlerkultur um im Wettbewerb bestehen zu können.