Gemeinsam mit vier anderen Gastwissenschaftlern erkunde ich das Virtual Human Interaction Lab der Stanford University. Ich erhoffe mir Hinweise auf innovative Trainingsmethoden für Führungskräfte, die sich in der digitalen Welt behaupten müssen.
Unsere Tour startet im Multisensory Room: Auf knapp 20 Quadratmetern Fläche orientieren wir uns mit Hilfe von räumlicher Akustik, Bewegungen der Bodenplatte und einem innovativen Head-Mounted Display (HMD), das eine virtuelle Welt in unser Gesichtsfeld projiziert. Das Klangsystem erzeugt Töne, die sich im Lab räumlich verteilen. So erhalten wir natürliche und realistische Höreindrücke. In den Experimenten werden Bewegungen des Untergrunds vermittelt, durch gesteuerte Vibrationen haben wir das Gefühl, uns normal im Raum zu bewegen – auch das macht die virtuelle Welt so überzeugend. In einem Moment glauben wir, Zeugen eines Erdbebens zu sein, im nächsten scheinen wir eine Hängebrücke zu überqueren.
Ich stehe hoch oben auf einem Baugerüst und schaue auf eine italienische Piazza hinunter. Meine Aufgabe lautet, über das Baugerüst zu laufen und auf einer Holzbohle zu balancieren. Ich habe ein mulmiges Gefühl wegen der Höhe und setze langsam einen Schritt vor den anderen, mit ausgestreckten Armen versuche ich das Gleichgewicht zu halten. Später sagen mir meine Kollegen, dass sie es amüsant fanden, wie ich ein wenig ängstlich balancierte, obwohl ich mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Ein wirklich eindrückliches Experiment, das perfekte 3D-Darstellungen von Häusern, Gegenständen und Menschen vermittelte. Für mich war die Situation unfassbar real. Hätte man meine physiologischen Daten wie Puls und Atemfrequenz gemessen, wären sicher Werte wie in einer echten Stresssituation herausgekommen. Es ist erstaunlich, dass man das eigene Gehirn so überlisten kann.
Im Virtual Human Interaction Lab versuchen die Forscher herauszufinden, wie sich Menschen in der digitalen Welt verhalten und wie sie interagieren. Dazu werden verschiedene technische Instrumente zur Gestik-Analyse oder für 3D-Darstellungen eingesetzt. Was in der virtuellen Welt passiert, ist von großem Nutzen in der realen Welt. Es gibt verschiedene Anwendungsfelder, etwa in der Medizin, in Aus- und Weiterbildung oder auch im Sport. Virtual Reality Simulationen können beispielsweise ein Anti-Phobie-Training unterstützen: Wer Angst vor Spinnen oder Schlangen hat, lernt gefahrlos den Umgang mit diesen Tieren. Das Football-Team der Stanford University studiert Spielzüge ein; die Simulationen ermöglichen es, die Perspektive anderer, auch gegnerischer Spieler einzunehmen. Im Katastrophenschutz ließe sich Menschen vermitteln, was sie bei einem Erdbeben tun sollen. Meine Kollegin hat dieses Experiment mitgemacht – wir sahen, wie sie sich unter einen (virtuellen) Tisch duckte. Angehende Ärzte könnten Untersuchungsmethoden üben, ohne dass sie dafür Präparate benötigten. In der Industrie sind Fabriksimulationen ein Weg, schwierige, störanfällige Operationen vorzubereiten, zum Beispiel Tätigkeiten an einer Fertigungslinie.
Mich interessiert besonders, welchen Beitrag Virtual Reality Simulationen in der Führungskräfteentwicklung zu leisten vermögen. Finde ich hier ein innovatives Trainingssetting für Führungskräfte, die Themen wie Führen auf Distanz, Beziehungsmanagement oder Mitarbeiterkommunikation in virtuellen Teams im Kopf haben? Lässt sich im virtuellen Raum ein Führungsverhalten trainieren, das in Respekt, Vertrauen und eine hohe Mitarbeiterbindung mündet? Ist eine Simulation nicht viel näher an der Realität als jede noch so gute Fachlektüre?
Ich ziehe einige Anregungen aus der Tour durch das Virtual Human Interaction Lab. Ein Beispiel ist das Perspective Taking – man schlüpft in den Körper einer anderen Person und nimmt deren Perspektive ein. Diese Methode wird genutzt, um Führungskräfte und Mitarbeiter für Diversity zu sensibilisieren. Indem ich in die Rolle einer älteren Person wechsle, erfahre ich, wie es sich anfühlt, wenn mich ein junger Vorgesetzter wegen meines angeblich zu langsamen Arbeitstempos kritisiert. Diese Übung fördert Empathie. Ich denke nach über eine Anwendung für Führungskräfte, die in der Simulation klassische Führungssituationen wie Feedback oder Delegieren aus der anderen Perspektive erleben. Ein solches Tool würde Verständnis fördern und könnte Verhaltensänderungen anstoßen.
Prof. Dr. Sabine Remdisch
Digitaler Fingerabdruck:
„Die Führungskraft auf Distanz wird weniger als Entscheidungsträger gebraucht, stattdessen müssen ihre Hauptfähigkeiten im Beziehungsmanagement liegen.“