Das Internet des Respekts

 

Wir leben in einer Attention Economy. Sobald wir den Computer einschalten, buhlen Unternehmen mit Werbung und subtileren Botschaften um unsere Aufmerksamkeit. Aber auch wir selbst wollen vor allem eines: wahrgenommen werden.

Tristan Harris bezeichnet sich als Design Thinker, Philosoph und Unternehmer. Sein Schwerpunkt ist Design Ethics, das heißt, er beschäftigt sich mit der Frage, welche ethischen Anforderungen und Grenzen bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, vornehmlich in der Internet-Wirtschaft, eine Rolle spielen. Bei Google arbeitet Harris zurzeit an einem neuen Tool für Produktdesigner, das bewusste Entscheidungen über Gestaltungsalternativen erleichtert. Das Inc Magazine führt Harris als Nummer 16 der Top-30-Unternehmer unter 30 Jahren.

Im Rahmen einer Vortragsreihe über Mensch-Computer-Interaktion und Design an der Stanford University lerne ich Harris kennen. Er spricht darüber, wie uns das Internet beherrscht, ja, versklavt, – und was geschehen muss, damit die Sklaverei aufhört. „Wo geht täglich meine ganze Zeit hin?“, fragt Harris. Das frage ich mich auch. Wir alle kennen das Phänomen: Kaum schalten wir den Rechner ein, werden wir ungefragt mit Botschaften überschüttet. Wir sollen hier etwas anklicken, dort etwas herunterladen, irgendein Update ist angeblich dringend erforderlich, Freunde schicken uns Nachrichten, und immer so weiter. Wir werden permanent und massiv gestört, „distracted“. Für das, was wir eigentlich am Laptop machen wollen, bleibt kaum noch Zeit – vielleicht vergessen wir es auch einfach.

Als Psychologin weiß ich, wir lassen uns manchmal aber auch gerne mal unterbrechen. Unliebsame Aufgaben schieben wir auf, sind empfänglich für Zwischendurchnachrichten. Prokrastination heisst diese „Aufschieberitis“ im Fachjargon. Am Ende des Tages aber merken wir, dass uns die Zeit davon gerannt ist und haben dann ein schlechtes Gefühl.

In der Attention Economy ist unsere Aufmerksamkeit die härteste Währung. Jeder versucht, auf sich aufmerksam zu machen, meist um uns etwas zu verkaufen. Aber wir sind nicht nur Opfer, sondern auch Täter, denn wir mischen fleißig mit in der Attention Economy. Wir sind süchtig danach, wahrgenommen zu werden, wir posten und kommentieren, mailen und twittern, dauernd checken wir die Kanäle, auf denen wir mit der virtuellen Welt Kontakt halten. Unsere größte Angst ist, etwas zu verpassen. Ein Teufelskreis. Und ein Riesengeschäft, denn eine ganze Branche sucht nach Möglichkeiten, wie sie unsere Attention wecken kann. Klassische Werbung ist da nur die Spitze des Eisbergs.

Sind wir online, werden wir ganz automatisch „distracted“. Deshalb forscht Harris über eine Technologie, die uns weniger stört und die unsere zeitlichen Ressourcen, unsere Privatsphäre besser achtet. Ein Internet des Respekts – ein ethisches Internet. „Wie könnte eine solche Welt aussehen und wie könnten wir sie erschaffen?“, fragt er. „Was wäre, wenn wir das Internet so gestalten, dass unsere darwinistischen Instinkte für uns statt gegen uns arbeiten?“ Dies ist das Ziel von ethischem Design, nämlich, den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Würde im Web zurückzugeben.

„Wir designen nicht nur Produkte, sondern Beziehungen“, sagt Harris. Aber was macht eine gute Beziehung aus? Wie muss das Internet beschaffen sein, damit wir uns wohlfühlen? Harris nennt mehrere Aspekte:

  • Im ethischen Internet werden wir nicht gezwungen, etwas sofort herunterzuladen. Wir haben die Freiheit, dies auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
  • Wir erhalten nicht nur dann bestimmte Informationen, wenn wir vorher an einer Umfrage teilgenommen oder einem Newsfeed zugestimmt haben.
  • Prioritäten. Wir müssen nicht jede Botschaft entgegennehmen, wenn wir nur auf die eine, wirklich wichtige warten. Wir können beispielsweise bestimmen, dass nur Anrufe des Vorgesetzten durchgestellt werden.
  • Das Smartphone hilft uns, unser Verhalten zu reflektieren, indem es Daten über körperliche Aktivitäten oder Nährstoffe im Essen liefert.
  • Wenn wir unsere Fitness steigern wollen, sagt uns die Navigations-App, wie viele Kalorien wir verbrauchen würden, wenn wir eine Wegstrecke zu Fuß statt mit dem Auto zurücklegen würden.

Das Internet des Respekts bietet Funktionen, die wir aus anderen Zusammenhängen kennen und auf die wir nie verzichten würden. Im Hotel hängen wir ein „Bitte nicht stören“-Schild an die Tür, um morgens auszuschlafen. Das gleiche Schild könnten wir am Computer in die virtuelle Welt hinaushängen, wenn wir ein dringendes Projekt abschließen müssen. Eingehende Nachrichten werden dann nicht sofort angezeigt, sondern erst, wenn wir die Funktion ausgeschaltet haben. „Der Designer muss den Menschen helfen, nicht nur effizient, sondern gut zu kommunizieren“, sagt Harris. Ich finde seinen Ansatz überzeugend, bin allerdings skeptisch, ob er in der Praxis funktionieren wird. Schließlich ist der Wettbewerb in der Attention Economy sehr hart. Unternehmen brauchen unsere permanente Aufmerksamkeit, um ihre Produkte und Dienstleistungen abzusetzen. Wie soll man sie davon abbringen? Um Harris’ Idee zu realisieren, müssten wir ein komplett neues Geschäftsmodell kreieren. Dahin ist es ein weiter Weg.

Prof. Dr. Sabine RemdischProf. Dr. Sabine Remdisch
Leiterin des Instituts für Performance Managements der Leuphana Universität Lüneburg und Gastwissenschaftlerin an der Universität Stanford.

Digitaler Fingerabdruck:
„Die Führungskraft auf Distanz wird weniger als Entscheidungsträger gebraucht, stattdessen müssen ihre Hauptfähigkeiten im Beziehungsmanagement liegen.“

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