Geschichten entstehen in der Vorstellung des Zuhörers – vorausgesetzt, sie werden richtig erzählt. In einem Seminar an der Stanford University plaudert ein professioneller Storyteller aus dem Erzählkästchen.
Gestern Abend habe ich einen professionellen Storyteller kennengelernt: Kendall Haven, Absolvent der US-Militärakademie West Point, seit 30 Jahren auf der Suche nach der perfekten Erzählstruktur. Er war Berater des US-Verteidigungsministeriums und vieler Unternehmen. An diesem Abend tritt er in der Seminarreihe Media X der Stanford University vor rund 200 internen und externen Zuhörern auf – ein überschaubares Publikum für ihn, wenn man bedenkt, dass er in seiner Laufbahn vor schätzungsweise sechs Millionen Menschen gesprochen hat.
Haven nennt sich selbst Master Storyteller. Er betont aber, dass in jedem von uns ein natürlicher Storyteller schlummert. Die grundlegenden Fähigkeiten zum Storytelling haben wir alle. Haven jedoch ist einer der wenigen, die über Jahre systematisch zum Thema geforscht haben. Er hat die neurologischen Prozesse im Gehirn untersucht, die durch das Erzählen und Hören von Geschichten angestoßen werden.
Von Haven kann ich lernen, wie ich Geschichten überzeugend erzähle. Wie ich Zuhörer vollständig begeistere, Vertrauen aufbaue und wie ich emotional packend erzähle. Ein Thema eignet sich für eine Geschichte, wenn es wichtig, mitreißend und stark ist. Aber es kommt nicht nur auf das Thema an, sondern auch auf die Struktur, also darauf, wie ich den Inhalt organisiere.
Haven nennt acht Punkte, von denen abhängt, ob meine Geschichte beim Zuhörer ankommt:
- Der Hauptdarsteller der Story
- Die Eigenschaften des Hauptdarstellers, mit deren Hilfe sich der Zuhörer eine Meinung bildet
- Das Ziel, das der Hauptdarsteller in der Geschichte verfolgt
- Die Motive, weswegen er dieses Ziel verfolgt
- Die Probleme, die zwischen dem Hauptdarsteller und seinem Ziel stehen
- Die Gefahren, denen der Hauptdarsteller ausgesetzt ist, und die Konsequenzen eines möglichen Scheiterns
- Der Kampf, den der Hauptdarsteller auf dem Weg zum Ziel ausfechten muss
- Das „Kolorit“, also szenische Details, kleinste Sinneswahrnehmungen, Blicke, Gerüche, Geräusche, all das, was die Vorstellung des Zuhörers ankurbelt.
Wer ein guter Storyteller werden will, darf nicht nur auf den Inhalt achten. Er muss den Erzählprozess gestalten, ihn inszenieren. Dazu gehört, sich beim Erzählen selbst zu reflektieren: Wo setze ich Gesten ein? Wo übertreibe ich möglicherweise? Wie kann ich das Feedback der Zuhörer in den Erzählprozess einbinden? Eine gute Balance zwischen Zuhören und Sprechen ist wichtig. Ein Geschichte fesselt, wenn sie den Zuhörer beteiligt, ihn mitnimmt, mitreißt. Storytelling wird dadurch bereichert, dass ich Gespräche anrege, Austausch fördere und Perspektiven eröffne.
Die Veranstaltung gestern Abend war überbucht, viele Unternehmensvertreter saßen im Publikum. Also ein aktuelles, wichtiges Thema auch für die Wirtschaft. Ich sehe Potenziale von Storytelling in der Führungskommunikation. Storytelling kann vor allem Veränderungsprozesse unterstützen, es kann eine Vision transportieren und Menschen inspirieren. Daneben spielt es natürlich auch in der Markenkommunikation und Werbung eine Rolle.
Prof. Dr. Sabine Remdisch
Digitaler Fingerabdruck:
„Die Führungskraft auf Distanz wird weniger als Entscheidungsträger gebraucht, stattdessen müssen ihre Hauptfähigkeiten im Beziehungsmanagement liegen.“