In der Stanford University hatte ich Gelegenheit, Prof. Keith Devlin kennen zu lernen. Er ist Mathematikprofessor und wissenschaftlicher Leiter von „Brainquake“, einem Team aus Mathematikern, Pädagogen, Spieleentwicklern und Designern, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Wissensvermittlung in der Mathematik zu revolutionieren.
Die „Sprache der Mathematik“ besteht bekanntlich aus Symbolen, die sich seit mehr als zehntausend Jahren kaum verändert haben. Devlin hält Verständnisprobleme dieser Sprache für die Hauptursache, dass Mathematiktalente weltweit knapp sind. Mit intelligenten Computerspielen will er Menschen einen neuen Zugang zur Welt der Zahlen verschaffen und brachliegende Mathematiktalente erwecken, die nicht nur in den USA erfolgsentscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sind. Die Tatsache, dass Spiele per Smartphone und App leicht in der ganzen Welt verbreitet werden können, kommt ihm dabei ganz besonders gelegen, denn so können weltweite Wettbewerbe organisiert und Mobiltelefone zu Talentscouts umfunktioniert werden. Außerdem lässt sich in ärmeren Ländern der Zugang zu einem Smartphone einfacher realisieren, als flächendeckender Mathematikunterricht im Klassenzimmer.
Doch was macht das Lernen mit Computerspielen attraktiv? Devlins Mathematikspiel „Wuzzit Trouble“, das vom Magazin Forbes zu einem der nützlichsten Neuentwicklungen des Jahres 2013 gekürt wurde, beschert dem User zum Beispiel viele kleine Erfolgserlebnisse. Das Knacken eines Zahlenproblems führt zur Befreiung niedlicher Fabelwesen (Wuzzits) aus ihrem Käfig, was diese mit Hopsern und Kieksern quittieren. Ich gebe zu, dass sich mir, einem eher nüchternen Mitglied der 50+ Generation und bislang abstinenter Computerspielerin, die Wirksamkeit dieser Form des „Lobes“ nicht von alleine erschlossen hat. Doch beim Spielen war auch ich stolz, nachdem ich ein (aus meiner Sicht) besonders kniffeliges Problem gelöst und dafür mit einem optischen und akustischen Signal belohnt wurde. Außerdem lernt man hier mit allen Sinnen. Beim Lösen der Zahlenrätsel muss man Zahnräder bewegen, Augen, Hände und den Verstand einsetzen. Ein Vorteil ist auch die Freiheit, selbst zu entscheiden, wann und wo es heißt „Game on“. Auch die Lerngeschwindigkeit, oder die Frage, ob und wann man sich dem Wettbewerb mit anderen aussetzen möchte, kann jeder selbst bestimmen. Und die Wuzzits tadeln nicht. Selbst beim hundertsten vergeblichen Anlauf ein Problem zu lösen warten sie noch immer gespannt auf die richtige Lösung. Scheitern ist im Computerspiel eben keine Schande! Das halte ich für einen Riesenvorteil gegenüber dem Lernen im Klassenverband.
Ich gehöre zu den Menschen, die Computerspiele bislang wohl eher für einen sinnentleerten Zeitvertreib der jüngeren Generation gehalten haben. Nach meinem Besuch im Silicon Valley sehe ich das weitaus differenzierter – und das nicht nur, weil Devlins Team zumindest in den USA Mütter in den mittleren Jahren als Hauptnutzergruppe von Computerspielen identifiziert hat! Wie Brainquake zeigt, bieten intelligente Spiele – Serious Games – viele, bisher ungenutzte Vorteile bei der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Auch wenn sie Schulunterricht vielleicht nicht ersetzen können, ergänzen werden sie ihn in Zukunft mit Sicherheit! Dabei sind die meisten Games nicht nur deutlich unterhaltsamer, sondern auch noch kostengünstiger als viele Förder- und Nachhilfestunden.
Wahrscheinlich werden Serious Games auch bald schon aus unserer Arbeitswelt nicht mehr wegzudenken sein. Sie können eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu steigern, ungeliebte oder langweilige Tätigkeiten zu versüßen, komplexe Arbeitsabläufe zu üben, Lob zu spenden, Menschen zu kreativen Ideen anzuspornen oder die Teamentwicklung voranzubringen. Und wer in einem anspruchsvollen Spiel ein hohes Level erreicht, stellt seine Fähigkeiten auch ohne kosten- und zeitintensive Auswahltest und Assessment Center unter Beweis. Vielleicht werden wir auf den Karriereseiten deutscher Unternehmen ja bald schon aufgefordert, Fabelwesen zu befreien, anstatt Lebenslaufdaten und Zeugnisnoten in Online-Bewerbungsformulare einzutragen. Wenn die Spiele dann Spaß machen, dürfte das nicht nur potentielle Bewerberinnen und Bewerber freuen, sondern auch den Beliebtheitsgrad von Unternehmen steigern, die in Zeiten knapper Fachkräfteressourcen auf zusätzliche Talentscouts angewiesen sind.
Dr. Annette Freitag
Digitaler Fingerabdruck:
„In der vernetzten Welt steigt der Wert von interkulturellen Kompetenzen.“